Moorleichen

Besonders die Moorleichen faszinieren Fachwelt und Öffentlichkeit. Sie gewähren intime Einblicke in das Leben und Sterben in vergangenen Epochen. Bei gut erhaltenen Moorleichen steht man einem vor mehreren Hundert bis Tausend Jahren verstorbenen Menschen gegenüber. Manche lassen sogar Haar- und Barttracht erkennen. Für die Erhaltung der Moorleichen spielen die Huminsäuren der Hochmoore eine entscheidende Rolle. Sie lösen eine chemische Reaktion aus, die mit dem Gerben von Tierhäuten bzw. der Herstellung von Leder vergleichbar ist. Die idealtypischen Überreste einer Hochmoor-Leiche sind Haut, Haare, Nägel, in einigen Fällen auch innere Organe, während die Knochen weich und demineralisiert sind.

Abb. 10: Eine der bis heute erhaltenen Moorleichen ist der 1941 entdeckte Mann aus dem Lengener Moor, der zwischen 135 und 320 n. Chr. im Alter von 40 bis 50 Jahren verstarb.
© Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg

Eine der bis heute erhaltenen Moorleichen ist der 1941 entdeckte Mann aus dem Lengener Moor (370G.), der zwischen 135 und 320 n. Chr. im Alter von 40 bis 50 Jahren verstarb. 

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Nur wenige der in den vergangenen Jahrhunderten beim Torfstich entdeckten Moorleichen konnten durch Fachleute untersucht werden. Viele von ihnen wurden wieder begraben, andere zerstückelt und als Souvenir verkauft. Besonders kurios erscheint heute, dass Moorleichen wie ägyptische Mumien zermahlen und als vermeintliches Heilmittel teuer verkauft wurden. Die Zahl der Moorleichen, die in die Museen gelangten und dort bis heute erhalten blieben, ist entsprechend gering. Von ursprünglich etwa 60 in den Mooren Niedersachsens gefundenen Moorleichen sind heute nur noch 15 erhalten [5, 8, 21].

Soweit diese mit naturwissenschaftlichen Methoden datiert werden konnten, stammen sie ähnlich wie in anderen Regionen Nordeuropas aus der Vorrömischen Eisenzeit und der Römische Kaiserzeit, also in einen Zeitraum zwischen 600 v. Chr. und 400 n. Chr. Allerdings gibt es regionale Unterschiede: während die Moorleichen Dänemarks vor allem aus den Jahrhunderten vor Christus stammen, liegt der zeitliche Schwerpunkt der Moorleichenfunde Niedersachsens in den Jahrhunderten nach Christus. Nur wenige Moorleichen stammen aus dem Mittelalter. In Norddeutschland und den Niederlanden überwiegen männliche Leichen, während beispielsweise in Dänemark vorwiegend weibliche Moorleichen geborgen wurden [7].

Genauere Fundumstände sind selten bekannt. Eines der wenigen Beispiele ist der 1934 entdeckte Tote von Jührdenerfeld, der offenbar mit Holzpfählen fixiert worden war [5]. Solche Befunde stellen aber eine Ausnahme dar. In aller Regel gelangten Fachleute erst an den Fundort, als der Fundkontext bereits zerstört war. Hier macht selbst die einzige, in jüngerer Zeit aufgefundene Moorleiche, das Mädchen aus dem Uchter Moor, keine Ausnahme. Der im Jahre 2000 beim Torfabbau entdeckte Leichnam wurde durch die Torfstechmaschine völlig zerstückelt. Nur die rechte Hand des vor über 2500 Jahren verstorbenen Mädchens blieb vollständig erhalten. Sie lässt noch Fingernägel und Fingerabdrücke erkennen. Nach ihrer Entdeckung und ersten, erfolglosen Ermittlungen der Kriminalpolizei dauerte es weitere fünf Jahre, bis klar wurde, dass es sich bei den Überresten nicht um das Opfer eines modernen Verbrechens, sondern um einen archäologisch relevanten Fund handelt [3]

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An der Hand der im Jahre 2000 entdecken, ca. 2650 Jahre alten Moorleiche ‚Moora‘ sind Haut und Fingernägel erkennbar.

Heute sind die Chancen auf den größtenteils entwässerten, durch Landwirtschaft oder industriellen Torfabbau genutzten Flächen noch unbekannte Moorleichen oder andere archäologische Objekte zu finden, außerordentlich gering. Umso größer ist die Bedeutung älterer, heute noch erhaltener Funde. In den letzten Jahren wurden daher die noch vorhandenen Moorleichen mit naturwissenschaftlichen, medizinischen und anthropologischen Methoden umfangreich untersucht. Die detaillierten Analysen ermöglichen es, Biographien und Lebenssituationen der Verstorbenen relativ genau nachzuzeichnen [1, 6, 20].

Literatur

[1] Bauerochse, A., Haßmann, H., Püschel, K., Schultz, M. (2018): „Moora“ – Das Mädchen aus dem Uchter Moor. Eine Moorleiche der Eisenzeit aus Niedersachsen II. Naturwissenschaftliche Ergebnisse Naturwissenschaftliche Ergebnisse. Materialhefte zur Ur- und Frühgeschichte Niedersachsens (Vol. 47). Rahden/Westf.

[2] Bauerochse, A., Leuschner, H. H., & Metzler, A. (2012): Das Campemoor im Neolithikum. Jahrbuch für das Oldenburger Münsterland, 61, 135–154.

[3] Bauerochse, A., & Metzler, A. (2005): Das „Mädchen aus dem Uchter Moor" - erste Moorleiche Niedersachsens seit fünfzig Jahren gefunden Denkmalpflege in Niedersachsen (Vol. 3, pp. 66-69).

[4] Bauerochse, A., & Metzler, A. (2015): Moore als Archive der Natur- und Kulturgeschichte – das Arbeitsgebiet der Moorarchäologie. TELMA, 5, 93-112.

[5] Both, F., & Fansa, M. (2011): Geschichte der Moorwegforschung zwischen Weser und Ems. In M. Fansa & F. Both (Hrsg.), „O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehen“. 220 Jahre Moorarchäologie (Vol. 79, pp. 43–188). Darmstadt.

[6] Both, F., Fansa, M., Jopp, E., Schultz, M., & Püschel, K. (2010): Der Junge von Kayhausen und die Haut aus dem Bareler Moor. Neue Untersuchungsergebnisse. Sonderausgabe aus dem Museumsjournal Natur und Mensch Naturkunde, Kulturkunde, Museumskunde (Vol. 6). Oldenburg.

[7] Burmeister, S. (2013): Moorleichen – Sonderbestattungen, Strafjustiz, Opfer? Annäherungen an eine kulturgeschichtliche Deutung. Paper presented at the ‚Irreguläre‘ Bestattungen in der Urgeschichte: Norm, Ritual, Strafe…?. RGK, Kolloquien zur Vor- und Frühgesch., Bonn.

[8] Eisenbeiß, S. (1994): Berichte über Moorleichen aus Niedersachsen im Nachlass von Alfred Dieck. Die Kunde N.F. (pp. 91–120).

[9] Gräf, J. (2015): Lederfunde der Vorrömischen Eisenzeit und Römischen Kaiserzeit aus Nordwestdeutschland Studien zur Landschafts- und Siedlungsgeschichte im südlichen Nordseegebiet (Vol. 7). Rahden/Westf.

[10] Hayen, H. (1977): Der Bohlenweg VI (Pr) im Grossen Moor am Dümmer. Materialhefte zur Ur- und Frühgeschichte Niedersachsens (Vol. 15). Hildesheim.

[11] Hayen, H. (1989): Bau und Funktion der hölzernen Moorwege: Einige Fakten und Folgerungen. Göttingen).

[12] Hayen, H. (1990): Moorarchäologie. In K. Göttlich (Hrsg.), Moor- und Torfkunde (pp. 156-174). Stuttgart (Schweizerbart.

[13] Hesse, S. (2008): Räder, Wagen und Wege im Moor. Funde aus dem Teufelsmoor zwischen Gnarrenburg und Karlshöfen. Archäologie in Niedersachsen, 11, 37–39.

[14] Heumüller, M. (2019): Archäologielandschaft Moor. Aktivitätsraum abseits des täglichen Lebens. Archäologie in Niedersachsen 22, 21-26.

[15] Heumüller, M., Abbentheren, E., & Melisch, C. (2021): Aschen. FStNr. 30 - Bohlenweg Pr 6. Fundchronik Niedersachsen 2019, 24.

[16] Heumüller, M., Hesse, S., Neumann, I., & Abbentheren, E. (2020): Karlshöfen Fundstelle 18, Gde. Gnarrenburg, Ldkr. Rotenburg (Wümme). Fundchronik Niedersachsen, 23, 255–258.

[17] Kossian, R. (2007): Hunte 1. Ein mittel- bis spätneolithischer und frühbronzezeitlicher Siedlungsplatz am Dümmer, Ldkr. Diepholz (Niedersachsen) Veröffentlichungen der archäologischen Sammlungen des Landesmuseums Hannover (Vol. 52).

[18] Müller, J. (2012). Research on Neolithic and Early Bronze Age wetland sites on north European plain. Paper presented at the Proceedings from the Munro International Seminar: The Lake Dwellings of Europe, Edinburgh

[19] Overbeck, F. T. (1975): Botanisch-geologische Moorkunde. Neumünster (Wachholtz Verlag).

[20] Püschel, K., Jopp-van Well, E., Jahn, W., Haßmann, H., Schultz, M., & Bauerochse, A. (2019): „Bernie“ – Die Moorleiche von Bernuthsfeld. Ergebnisse der interdisziplinären Erforschung und Rekonstruktion eines frühmittelalterlichen Fundkomplexes aus Ostfriesland Materialhefte zur Ur- u. Frühgeschichte Niedersachsens (Vol. 57). Rahden/Westf.

[21] van der Sanden, W. (1996): Mumien aus dem Moor. Die vor- und frühgeschichtlichen Moorleichen aus Nordwesteuropa. Amsterdam).